Alle sind Alemannia

Tivoli - I lov it: Zweitligist Aachen will aufsteigen und sucht mühebeladen einen Platz für sein neues Stadion

Kein Proficlub in Deutschland spielt so lange am gleichen Ort: die charmante Halbruine steht seit 1908

AACHEN taz ■ 4:0 (gegen Saarbrücken), 1:5 (in Cottbus), am Mittwoch 6:2 gegen Angstgegner LR Ahlen. Aufstiegsaspirant Alemannia Aachen wirkt bislang so stabil wie ein Haufen Mikado-Hölzer. Also war auch nach dem Ahlen-Spiel Trainer Dieter Hecking nur vorläufig zufrieden: „Die richtige Wiedergutmachung für Cottbus muss in Rostock stattfinden. Da muss das Team sein wahres Gesicht zeigen.“ Heute Abend spielt Alemannia beim Ex-Bundesligisten.

Die Bundesliga ist erstmals Alemannias offensiv erklärtes Ziel. Sechs neue Spieler sind gekommen. Eingeschlagen hat bislang nur der Ex-Fürther Sascha Rösler. Als Riesentalent zeigt sich der pfeilschnelle Gladbacher Leihspieler Jan Schlaudraff. Beide haben bislang viermal getroffen. Ansonsten wird munter rotiert, als wäre statt Hecking Jürgen Klinsmann am Ruder. Alemannias Jungsenioren Willi Landgraf (37) und Erik Meijer (36) sind in ihrer jeweils letzten Profisaison momentan noch nicht die Leitwölfe des Vorjahres. Der kleinwüchsige Rekordspieler Landgraf wurde gegen Ahlen erstmals eingewechselt (497. Zweitliga-Performance), und die 17.000 schrien sich vor Glück die Kehlen heiser.

Nie ging es dem früheren Chaosklub besser als nach der spektakulären Uefacup-Saison. Die wirtschaftliche Beschau im Sommer wurde erstmals in der 105-jährigen Vereinsgeschichte „Bilanzpressekonferenz“ genannt. Sehr unalemannisch ging es um Benchmarking, um vierfach gestiegene Merchandising-Erlöse durch Quasi-Just-in-time-Lagerhaltung und um satte 4,022 Millionen Euro Überschuss vor Steuern in 2004. Derzeit sind 12.500 Dauerkarten verkauft. Das VIP-Zelt erreicht mittlerweile Tribünengröße, das Stadionheft wegen vieler Sponsorenanzeigen fast Buchdicke. Und die Liste der Business-Partner, die vor dem Spiel über Video flimmert, unterscheidet sich kaum noch vom Branchenbuch der Stadt. Alle sind Alemannia.

Und alle lieben den Tivoli, das verklärte Heiligtum. Kein Proficlub in Deutschland spielt so lange am gleichen Ort: die charmante Halbruine steht seit 1908. Ein Ersatztempel soll nun her. Die Debatte ist hoch emotionsgeladen. Neue Ideen seit Frühjahr 2004 wurden ent- und dann verworfen. Zwei Alternativen gibt es: Gleich neben dem alten Stadion oder weit außerhalb auf der grünen Wiese.

Version 1 wollen fast alle, sie hat aber Nachteile: Sie käme deutlich teurer, weil krachbedingt ein Dach nötig wäre, die Grundstückspreise sind höher. Zudem gäbe es weniger Platz für Trainingsplätze, der benachbarte Postsportverein und die Radieschenrabatten einer Schrebergartensiedlung müssten weichen. Die Gespräche scheiterten. Version 2 ist das Gelände rund um den Sportflughafen Merzbrück. Das passt zwar zum Höhenflug, aber: Das Gelände liegt knapp außerhalb der Stadtgrenzen, in Würselen. „Man stelle sich vor“, empörten sich die Fan-Mehrheit, „Aachens Dom stünde neuerdings in Herzogenrath, den Ritter wider den tierischen Ernst kürte man in Stolberg und der Karlspreis würde in Roetgen verliehen.“

Ein niederländischer Investor will in Merzbrück gleich Shoppingmall und Erlebniszentrum dazubauen. Erst jaulte Aachens Einzelhandelsverband auf, aus Angst vor Käuferschwund. Im Fanforum löste der gigantische Sportpark Ekelkommentare zu Hunderten aus, zumal nach des Investors Eigentor: Theoretisch, sagte er, würde sein Konzept auch ohne Stadion funktionieren. Noch in den Wahlkampfwochen preschten die Grünen, sonst sportpolitisch eher unauffällig, vaterstädtisch vor: „Der Tivoli muss in Aachen bleiben.“ Alle Parteien nickten und SPD-Oberbürgermeister Linden legte schnell eine Depesche nach: plötzlich war eine geheime dritte Grundstücks-Alternative in der Nähe des alten Tivoli aufgestöbert, die man mit der Alemannia „planerisch verfolgen“ wolle.

Aufstieg ist das eine. Das wichtigste bleibt ein würdiger Ersatz für das alte Kultgemäuer. Auch im Ahlen-Spiel wurden Protest-Unterschriften gesammelt, es gab laute Fangesänge und mächtige Protestparolen: „Gegen Erlebnispark Merzbrück, nur in Aachen liegt das Glück“. Mythos Tivoli: Wahrscheinlich kein Stadion der Welt hat eine Liebeserklärung im Namen – rückwärts gelesen. Und eine neue Liebe will besonders sorgsam gewählt sein.

BERND MÜLLENDER